Everything is up for sale
Jedes Jahr gehen israelische High-school-SchülerInnen am Donation Day von Haus zu Haus, um Spenden für wohltätige Zwecke zu sammeln. In einem Experiment wurden die SchülerInnen in drei Gruppen geteilt. Alle hörten dieselbe kurze Ansprache, die sie zum Sammeln motivieren sollte. Zwei der drei Gruppen bekamen noch einen zusätzlichen finanziellen Anreiz. 1 % bzw. 10 % der gesammelten Gelder sollten ihnen gehören. Die unbezahlte Gruppe sammelte um 55 % mehr Spenden als die, die 1 % Provision erhielt, bzw. um 9 % mehr als die mit 10 % Provision.
Das lässt folgende Schlüsse zu:
- Der Preiseffekt, die in der Wirtschaftstheorie üblicherweise unterstellte positive Beziehung zwischen dem monetären Anreiz und der Arbeitsleistung, funktioniert. Die 10 %-Gruppe erzielte bessere Ergebnisse als die 1 %-Gruppe.
- Allerdings gilt das nur, wenn das Sammeln von Spenden als handelbares Wirtschaftsgut betrachtet wird. Die Gruppe ohne finanziellen Anreiz betrachtete das Sammeln als soziale Aktivität, als Dienst an der Gemeinschaft. Der Akt des Bezahlt-Werdens verwandelte diese Tätigkeit in einen Job zum Geldverdienen. Die eingeführten Normen des Marktes ersetzten oder schwächten das moralische und staatsbürgerliche Engagement der SchülerInnen. (1)
Diese Normenverschiebung, die der in Wien geborene Fred Hirsch, später Professor of International Studies an der University of Warwick, schon in den 1970er-Jahren den „commercialization effect“ nannte, sollten die politisch Verantwortlichen nicht übersehen.
Der Bitte um freiwillige Zusatzleistung in einer schwierigen Zeit wird von sehr vielen KollegInnen gerne nachgekommen. Würde man allerdings eine solche Zusatzleistung anordnen, würde das zurecht Ablehnung und Widerstand hervorrufen.
Wenn wir akzeptieren, dass die Transformation eines Gutes zu einer Ware den Charakter des Gutes verändern kann, müssen wir uns die Frage stellen, wo wir Marktmechanismen zulassen und wo eben nicht. Diese Frage lässt sich aber nicht beantworten, ohne über die Bedeutung, den Zweck und den (moralisch-ethischen) Wert des Gutes zu diskutieren. Davor scheuen sich viele PolitikerInnen, denn das geht nicht, ohne sich öffentlich zu moralisch-ethischen und/oder religiösen Überzeugungen zu bekennen. Sich davor zu drücken, bedeutet allerdings nicht, diese Fragen nicht zu entscheiden. Es bedeutet lediglich, die Beantwortung den Märkten zu überlassen.
„The problem with our politics is not too much moral argument but too little. Our politics is overheated because it is mostly vacant, empty of moral and spiritual content. It fails to engage with big questions that people care about. […] It would be folly to expect that a morally more robust public discourse, even at its best, would lead to agreement on every contested question. But it would make for a healthier public life. And it would make us more aware of the price we pay for living in a society where everything is up for sale.“ (2)
(1) Siehe Michael J. Sandel, What Money Can’t Buy. The Moral Limits of Markets (New York 2012), S. 117f.
(2) Sandel, S. 13-15.